Die letzte Lebenszeit kann wertvoll sein

MONTAGSINTERVIEW - Pallia­tiv­me­di­zi­nerin Dr. Nina-Kristin Eulitz über Sterben
VON PAMELA DE FILIPPO, 16.09.2024, Hessische Allge­meine (Kassel Mitte/Kassel)

Pallia­tiv­me­di­zi­nerin Dr. med. Nina-Kristin Eulitz

Die Begleitung von Schwerst­kranken und Sterbenden, aber auch der Umgang mit Todeswünschen stehen im Mittel­punkt des 8. Kasseler Hospiz- und Pallia­tivtags am Mittwoch, 18. September. Dort wird unter anderem Dr. Nina-Kristin Eulitz, Leiterin des Pallia­tiv­me­di­zi­ni­schen Zentrums am Marienkrankenhaus, über ihre Erfah­rungen sprechen. Im Interview schildert sie, warum die letzte Lebenszeit oft besonders intensiv gelebt wird und wie ihr Team Patienten in dieser Phase unterstützt.

Frau Dr. Eulitz, eine Pallia­tiv­station wird von den meisten Menschen mit Tod, Sterben und Leid in Verbindung gebracht. Wie würden Sie Ihren Arbeitsort beschreiben?

Ziel unserer Arbeit ist es, Menschen mit schweren und lebens­li­mi­tie­renden Krank­heiten eine bestmög­liche Lebens­qua­lität bis zum Lebensende zu ermög­lichen, also Leid wirksam zu lindern. Mehr als 60 Prozent unserer Patienten kehren nach einer stabi­li­sie­renden Behandlung sogar in ihr gewünschtes Lebens­umfeld zurück. Aber natürlich kann die Pallia­tiv­station auch ein Schutzraum sein, in dem die letzte Lebenszeit bis zum Tod verbracht wird – unterstützt und begleitet von einem multi­pro­fes­sio­nalen Ärzteteam, hochqua­li­fi­zierten Pflege­kräften, Seelsorgern, Thera­peuten für Famili­en­the­rapie oder Musik­the­rapie und ehren­amt­lichen Mitar­beitern. So kann die letzte Lebenszeit zu etwas sehr Wertvollem und sogar Schönem werden.

Wie häufig wird auf der Pallia­tiv­station gelacht?

Wir lachen gern und viel auf unserer Station. Wenn das Leid gelindert ist, können die Menschen auf der Pallia­tiv­station ihren Humor wieder­finden und dann ist – auch gemein­sames – Lachen möglich. Außerdem wird die Zeit inten­siver ausge­kostet, wenn sie begrenzt ist. Manchmal gelingen in dieser Lebens­phase Begeg­nungen, Gespräche oder Entschei­dungen, die gerade erst durch diese Inten­sität der begrenzten Zeit möglich werden. Das ist für alle Betei­ligten sehr kostbar. Auch Lebens­er­eig­nisse wie Hochzeit, Taufe oder Geburts­tags­feiern sind Teil des Lebens auf unserer Palliativstation.

Gibt es einen guten Weg, sich auf den eigenen Tod vorzubereiten?

Wir dürfen nicht vergessen, dass es auch die Möglichkeit gibt, dankbar und lebenssatt zu sterben. Deshalb glaube ich, dass es die beste Art der Vorbe­reitung ist, das Leben ehrlich und übereinstimmend mit den eigenen Vorstel­lungen zu leben. Entschei­dungen, die vor 20 Jahren nicht getroffen oder Bezie­hungen, die seit Jahren nicht geklärt wurden, können manchmal nicht nachgeholt werden. Es kann hilfreich sein, die Blick­richtung auf das Gelungene zu richten und zu überlegen, welche Werte, Erfah­rungen und Erinne­rungen man zurücklassen und weiter­geben möchte.

Wie kann das Team der Pallia­tiv­station Patienten und Angehörige bei diesem Prozess unterstützen?

Wir unterstützen Menschen in ihrer Trauer- und Abschieds­arbeit. Schwierig ist es, wenn Menschen das Gefühl haben, dass das eigene Leben noch nicht ausge­schöpft ist, oder der Abschied von einem geliebten Menschen schwer­fällt. Eine gute Symptom­kon­trolle ist hier eine wichtige Grundlage. Denn nur wenn die körper­lichen Beschwerden ausrei­chend gelindert sind, kann ein Mensch seine Kraft in die notwen­digen inneren Prozesse inves­tieren. Darüber hinaus sind wir an der Seite der Menschen, hören zu, beraten und unterstützen falls gewünscht auch psycho­the­ra­peu­tisch oder seelsorgerlich.

Es heißt, in der letzten Lebens­phase lässt man das eigene Leben noch einmal Revue passieren. Was beschäftigt – Ihrer Erfahrung nach – die Sterbende dann noch einmal?

Es sind tatsächlich die inneren, zwischen­mensch­lichen und auch spiri­tu­ellen Themen. So habe ich von einem Patienten noch nie gehört: „Ach, hätte ich in meinem Leben doch mehr verdient.“ Statt­dessen bereuen Menschen oft, nicht mehr Zeit mit den geliebten Menschen verbracht zu haben. Auch existen­zielle Fragen nach dem Sinn von Leben und Sterben, nach dem Woher und Wohin, dem Warum und Wozu werden gestellt. Die letzte Lebens­phase kann eine Phase der inten­siven Begeg­nungen und der Reifung sein.

Wie häufig kommt es vor, dass Menschen einen Todes­wunsch äußern?

Todeswünsche sind nicht selten und können ganz unter­schied­liche Hintergründe haben – von dankbarer Lebens­s­attheit („Es darf jetzt auch genug sein.“) über die Sehnsucht nach einem schnel­leren Tod bis zu einer akuten Suizi­da­lität mit leidvollen und bedrän­genden Selbsttötungsgedanken.

Wie geht Ihr Team damit um?

In jedem Fall ist ein geäußerter Todes­wunsch ein akuter Hilferuf eines Menschen, den wir sehr ernst nehmen und bei dem wir die Unterstützung durch unser gesamtes multi­pro­fes­sio­nelles Team anbieten. Es ist jedoch wichtig, den Wunsch nicht als unmit­telbare Handlungs­auf­for­derung zu hören, sondern in dieser Situation als offener Gesprächs­partner zur Verfügung zu stehen. So kann man gemeinsam überlegen, wie die als unaus­haltbar empfundene Situation so verändert werden kann, dass sie wieder erträglich wird. Bei akuter Suizi­da­lität oder wenn dem Todes­wunsch eine psychische Erkrankung, zum Beispiel eine schwere Depression, zugrunde liegt, benötigen wir die Fachkom­petenz der psych­ia­tri­schen Kollegen.

Sollten wir zu Lebzeiten mehr über den Tod sprechen?

Ich denke nicht, dass wir mitten im Leben ständig über den Tod sprechen müssen. Aber ich bin der Ansicht, dass es viel in unserer Lebensführung ändert, wenn wir das Wissen um unsere Endlichkeit sowohl persönlich als aus gesamt­ge­sell­schaftlich an uns heran­lassen. Das kann zu einem bewuss­teren, dankba­reren Leben führen.


Zur Person

Dr. Nina-Kristin Eulitz ist Anästhe­sistin, Pallia­tiv­me­di­zi­nerin und Schmerz­the­ra­peutin. Die Ärztin ist seit 20 Jahren in der statio­nären und ambulanten Pallia­tiv­me­dizin tätig. Seit April 2021 ist Eulitz die ärztliche Leitung der Pallia­tiv­me­dizin im Marienkrankenhaus Kassel. Hier arbeitet die Medizi­nerin mit einem sehr erfah­renen und gut vernetzten Exper­tenteam zusammen. Nina-Kristin Eulitz lebt in Göttingen und ist verheiratet.


Link zum HNA-Artikel: https://www.hna.de/kassel/letzte-lebenszeit-kann-wertvoll-sein-kasseler-palliativmedizinerin-dr-nina-kristin-eulitz-uebers-sterben-93303041.html