Welche Bedeutung hat das Essen für mich?

Für den jungen Mann war es ein glück­liches Erlebnis. „Heute bin ich mal wieder Straßenbahn gefahren und jemand hat sich neben mich gesetzt“, berichtete er Kerstin Meyfarth. Die Ökotropho­login ist Ernäh­rungs­be­ra­terin im Adipo­sit­aszentrum Nordhessen am Marienkrankenhaus Kassel. Und der junge Mann, von dem die Rede ist, hatte seit Jahren in den Öffent­lichen Verkehrs­mitteln niemanden mehr erlebt, der sich neben ihn setzte. Was auch daran lag, dass er enormes Überge­wicht hatte und zumindest Teile des zweiten Sitzes für sich beanspruchen musste. Nun, nach einer Operation, in der ihm der Magen verkleinert wurde und nach der er 55 kg abgenommen hatte, verstärkte sich das Gefühl, in Richtung „normales Leben“ unterwegs zu sein.

Bis zu 300 Menschen kommen jedes Jahr in die Klinik auf dem Rothenberg, weil sie die Reißleine ziehen und ihr Leben verändern wollen. Die meisten, sagt Oberärztin Dr. Martina Rippl, kommen aus eigenem Antrieb und vielleicht 20 bis 30 Prozent, weil sie vom Arzt geschickt werden. Adipo­sitas, starkes Überge­wicht also, ist im Land weit verbreitet: Rund 53 Prozent der Menschen sind überge­wichtig, starkes Überge­wicht haben dabei 19 Prozent der Erwach­senen – und das sind immerhin 13 Millionen. Die Einteilung erfolgt nach dem Body-Mass-Index (BMI, siehe Infokasten).

Im Marienkrankenhaus Kassel macht das Team des Adipo­sit­aszen­trums Nordhessen erst einmal eine gründ­liche Anamnese: Gefragt wird, worunter die Betrof­fenen aufgrund ihres Gewichtes leiden, welche Auswir­kungen dies im Alltag hat. Auch die Entwicklung des Gewichts im Laufe der Jahre oder auch die bishe­rigen Abnehm­ver­suche, Lebens­um­stände, Ess- und Bewegungs­ver­halten werden thema­ti­siert. Gemeinsam werden kurzfristige und langfristige Ziele festgelegt, bei denen die Betrof­fenen begleitet werden.

Dabei, sagen Rippl und Meyfarth, geht es nicht um einen schönen Körper. Es gibt genug Daten, die unter­mauern, dass ein BMI über 30 die Lebens­er­wartung verkürzt und das Risiko für Herzer­kran­kungen, Diabetes mellitus Typ 2, Krebs­er­kran­kungen und vielen weiteren Erkran­kungen verbunden ist. Bei einem BMI über 40 werde die Lebens­er­wartung um zehn Jahre verkürzt. Rippl: „Der Grund dafür ist eine Entzündung. Eine Überladung unserer Fettzellen mit Fett führt zu Fettab­la­ge­rungen an den inneren Organen, dort wo Fett eigentlich nicht hingehört. Diese falsche Ablagerung führt zu Freisetzung von Boten­stoffen, die im gesamten Körper eine Art Entzün­dungs­re­aktion auslösen können und zu den vielen Folge­er­kran­kungen führen.“ Eine Reduktion des Fettge­webes könne diese Prozesse wieder umkehren.

Eine Kosten­über­nahme der Behand­lungs­mög­lich­keiten bei Adipo­sitas muss aber aktuell noch bei den Kranken­kassen beantragt werden und ist keine Regel­leistung. Auch hier berät das Adipo­sit­aszentrum Nordhessen.

Für die verschie­denen Stufen des Überge­wichts gibt es unter­schied­liche Thera­pie­an­sätze. Klar ist aber auch, sagen die Exper­tinnen, dass Betroffene mit einem BMI über 40 oder Betroffene mit einem BMI über 35, die schon Neben­er­kran­kungen haben, mit Verän­de­rungen ihres Lebens­stils allein meist ihr Gewicht nicht auf einen BMI unter 30 reduzieren können. Konse­quenz: Hier wird eine Operation angeboten zur Verklei­nerung des Magens.

Die vielfäl­tigen möglichen Ursachen für Adipo­sitas sind bekannt, häufig ist es eine Mischung aus verschie­denen Faktoren: Bewegungs­ver­halten, Erholungs­ver­halten, Schicht­arbeit, Gewicht der Eltern, familiäre Nahrungs­vor­lieben, Verfüg­barkeit und Zubereitung von Nahrung, Alter, Geschlecht, psycho­so­ziale Faktoren, familiäre Veran­lagung, Hormon­er­kran­kungen und Medika­mente können unser Gewicht beeinflussen.

Adipo­sitas hat viele Ursachen …

Aber es gibt auch eine zusätz­liche, spannende Erkenntnis: Unser Körper­ge­wicht wird zu einem großen Teil von unserem Gehirn gesteuert. In früheren Stadien der Evolution war eine Gewichts­zu­nahme direkt mit einem besseren Überleben in der Wildnis verbunden. Das hat unser Gehirn bis heute bewahrt:  Daher strebt unser Körper immer unser Höchst­ge­wicht an. Dieses Höchst­ge­wicht ist im Gehirn abgespei­chert und unser Stoff­wechsel tut alles dafür, um genau dieses wieder zu erreichen.  Der mensch­liche Körper reduziert dafür den Energie­grund­umsatz. Durch den gerin­geren Energie­ver­brauch nehmen wir trotz reduzierter Nahrungs­auf­nahme nach einer Diät wieder zu. Und unser Gehirn signa­li­siert bei einer Gewichts­re­duktion mehr Hunger­gefühl, vor allem auf hochka­lo­rische Speisen. Alles nur, um wieder auf das höchste Gewicht zu kommen. Ob und wann sich dieses körper­eigene Zielge­wicht im Gehirn auch wieder nach unten beein­flussen lässt, ist noch nicht wissen­schaftlich geklärt.

Hunger und Energie­ver­brauch könne man nur bedingt willentlich beein­flussen. Und das mache eine dauer­hafte Gewichts­re­duktion so schwierig. Denn, so Rippl: Für eine langfristige Gewichts­ab­nahme können Diäten nicht empfohlen werden. Der Grund: Mit jeder Diät gehe mit dem abgenom­menen Fett auch Muskel­masse verloren, bei der erneuten Gewichts­zu­nahme nehme man nur Fett zu. Damit verschlechtere sich die Körper­zu­sam­men­setzung hin zu mehr Fettgewebe und weniger Muskulatur.

Doch es gibt, sagt Rippl, auch jenen Teil der Ernährung, den man beein­flussen kann. Und der ist verbunden mit der Frage: „Welche Bedeutung hat das Essen für mich?“  Mal ein schönes Stück Schokolade, ein Bier oder ein Glas Wein – ein entspan­nender Genuss. Doch hat ein Mensch nur Essen, um zu entspannen oder dem Stress zu entfliehen, kann das zu einem Gewichts­problem werden.  Man sollte sich also vor einer Gewichts­re­duktion darüber im Klaren sein, was der eigent­liche Antrieb für diesen Schritt ist. Und da kommt das Team des MKH ins Spiel: Neben einer langfris­tigen Ernäh­rungs- und Bewegungs­um­stellung, die in Schulungen besprochen werden, geht es um psycho­lo­gische Themen, zusätzlich werden Thera­pie­stra­tegien entwi­ckelt. Um dies alles bieten zu können, ist ein multi­pro­fes­sio­nelles Team aus mehreren Berufs­gruppen notwendig. Da trifft es sich ganz gut, dass Rippl die Diabe­to­login des MKH ist. Und dass das Zusam­men­wirken der Kompe­tenzen ein Beleg für das stark ausge­prägte inter­dis­zi­plinäre Konzept der Klinik ist.

Der Magen wird operiert, nicht das Gehirn.

Der geordnete und fachlich begleitete Weg bei Spezia­listen, sagen die beiden Exper­tinnen, lohnt sich. Wer sich nach reich­lichen Analysen und Gesprächen für eine OP entschieden hat, nimmt am hausin­ternen Kurspro­gramm teil. Zudem müssen bestehende Alltags­rou­tinen angepasst werden. Rippl: „Der Magen wird operiert, nicht das Gehirn.“

Im Arbeits­zimmer des Adipo­sit­aszen­trums Nordhessen stehen zwei Arten von Besucher­stühlen: Ein normaler – und einer, der eine fast doppelt so breite Sitzfläche hat. Auch so eine Angst bei Adipo­sitas-Patienten, sagt Kerstin Meyfarth: Sich in einen Stuhl mit Lehnen setzen und dann nicht mehr rauskommen. Beim Extra-Big-Exemplar in ihrem Büro droht das nicht. Und auch eine andere Gefahr nicht: Die meisten Stühle, die man so vorfindet, sind nämlich nur für 140 kg Belastung ausgelegt. Der nächste Grund, sich um das eigene Gewicht zu kümmern. Hilfe gibt es am Kasseler Rothenberg.


Was ist der Body-Maß-Index?

Der Body-Maß-Index (BMI) dient zur Abschätzung des Körper­fett­an­teils. Das Körper­ge­wicht wird dabei in ein Verhältnis zur Körper­größe gesetzt. Der BMI berechnet sich aus dem Quoti­enten aus Körper­ge­wicht und Körper­größe zum Quadrat. Eine noch genauere Bestimmung ist die Messung des Körperfettanteils.

Das Überge­wicht wird in folgende Klassen unterteilt:
DefinitionBody Mass Index
Normal­ge­wicht18-24,9 kg/m2
Überge­wicht25-29,9 kg/m2
Adipo­sitas Grad 130-34,9 kg/m2
Adipo­sitas Grad 235-39,9 kg/m2
Adipo­sitas Grad 3Mehr als 40 kg/m2

Beispiels­weise hätte ein 180 cm großer Mann mit einem Körper­ge­wicht von 80 kg einen BMI von 24,9 kg/m2.  Bei einem Körper­ge­wicht von 110 kg läge der BMI schon bei 34 kg/m2 und damit im Bereich der Adipositas.

Hier geht es zum BMI-Rechner der Deutschen Adipositasgesellschaft:

https://adipositas-gesellschaft.de/bmi/

Text: Horst Seidenfaden


Zum Download:

Artikel Nordhessen Gesund

Link zum Heft Mein Kassel: Nordhessen Gesund: https://mein-kassel.com/nordhessen-gesund